Noch mehr Fachkompetenz

Das Projekt «Pflegekinder – next generation» verstärkt seine operative Steuerung. Mit Professor Alexander Grob, der sich seit Jahren mit der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis auseinandersetzt, stösst ein profunder Kenner des wissenschaftlichen Arbeitens zum Team.

Zusammen mit Jacqueline Burckhardt, der Präsidentin der Palatin-Stiftung, ist Alexander Grob neu für die operative Steuerung des Projekts «Pflegekinder – next generation» zuständig. Diese beinhaltet etwa die Kontrolle des Gesamtablaufs des Projekts. In seiner Funktion als neues Stiftungsratsmitglied berät Professor Grob den Gesamtstiftungsrat, wenn es um strategische Fragen im Projekt geht. «Wir freuen uns über diesen Zuwachs an Fachkompetenz», sagt Jacqueline Burckhardt. «Wir sind überzeugt, dass mit Alexander Grob unser nationales Forschungs- und Praxisprojekt nochmals merklich gestärkt wird.»

Tatsächlich hat Alexander Grob, der seit 2005 als Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel amtet, einen beachtlichen wissenschaftlichen Leistungsausweis. Er leitete zahlreiche grosse interdisziplinäre Grundlagen- und umsetzungsorientierte Forschungsprojekte. Von 2011 bis 2018 war er Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds und präsidiert die Leitungsgruppe des Nationalfondsprojektes 76 «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft». Das Forschungsprogramm zielt darauf ab, Merkmale, Mechanismen und Wirkungsweisen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis in ihren verschiedenen Kontexten zu analysieren. Dabei sollen mögliche Ursachen für integritätsverletzende und -schützende Fürsorgepraxen identifiziert und die Auswirkungen auf die Betroffenen untersucht werden.

Es sei sein stetes Ziel, so Professor Grob über sein wissenschaftliches Schaffen, die Entwicklungsumgebungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu fördern, «damit sie ihr Potential ausschöpfen und zu selbstbestimmten und produktiven Mitgliedern der Gemeinschaft werden können». In diesem Sinn und Geist wird er auch das Projekt «Pflegekinder – next generation» begleiten – damit sich die Bedingungen, unter denen Pflegekinder in der Schweiz aufwachsen, langfristig verbessern.

Die Projektstruktur für die Phase II des Projektes «Pflegekinder – next generation» ist wie folgt:

 

«Wir sind Erfahrungsexperten»

Thomas Woodtli war einer der ersten, der sich für die Dialoggruppen beim Projekt «Pflegekinder – next generation» gemeldet hat. Den Austausch mit der Wissenschaft und Politik erachtet das ehemalige Pflegekind als zentral, wie er im Interview ausführt.

 

Thomas Woodtli – mit 34 Jahren gehören Sie zur Gruppe der «Careleaver». Passt dieser Begriff?

Nein, dieser Begriff ist mir zu unscharf und unbedeutend. Ich bin von meiner Geschichte her schlicht und einfach ein «ehemaliges Pflegekind». Meiner Mutter wurde die Obhut entzogen und so kam ich als Vierjähriger erst für mehrere Jahre in eine Kleinkinderwohngruppe, später wurde ich bei einer Pflegefamilie platziert, bis mich schliesslich die Heimleiterin, die ich von früher kannte, als Pflegekind bei sich aufgenommen hat. Auf meinen Wunsch, wohlgemerkt.

Sie konnten selbstbestimmt mitentscheiden?

Tatsächlich, mit 12 Jahren war für mich klar, wo ich leben wollte. Die verschiedenen Pflegefamilien, die mir vorgestellt wurden, schienen mir keine Option. Und so habe ich die Leiterin der Kleinkinderwohngruppe, wo ich 5 Jahre untergebracht war, gefragt, ob nicht sie mich aufnehmen würde. Das hat sie getan. Emotional war es genau das, was ich wollte. Sie war die erste alleinerziehende Pflegemutter. Von 1999 bis 2012 bin ich bei ihr geblieben, bei Bettina, meiner Freundin.

Besteht auch zu den Herkunftseltern solch eine tiefe Beziehung?

Meine Mutter taucht dann und wann bei mir auf. Ich habe wenig Bindung zu ihr, eher wie zu einer entfernten Verwandten. Mit meinem Vater habe ich sehr selten Kontakt. Bei ihm ist das Verhältnis ebenso wie zu einem entfernten Bekannten.

Schmerzt das?

Nein, denn ich hatte eine glückliche Zeit als Pflegekind erlebt. Ich wehre mich gegen die Vorstellung, dass Kinder den Eltern von den Behörden «weggenommen» werden. Das hat doch meist einen offensichtlichen Grund, auch bei mir, mit einem abwesenden Vater und einer überforderten Mutter. Eine Gefährdungsmeldung war der Auslöser aber nicht die Ursache, dass ich fremdplatziert wurde – und das war auch gut so.

Und doch berichten viele Pflegekinder von Unsicherheiten und Verletzungen.

Nach wie vor heisst es: «Oh, Du bist als Pflegekind aufgewachsen». Oder: «Was hast Du gemacht, dass Du wegmusstest?». Das löst natürlich was aus. All dieses Unwissen und dieses Gerede ist nicht hilfreich und sicher nicht im Interesse der Kinder: Sie erschweren – im ungünstigsten Fall – das Verhältnis zu Pflegeeltern und Herkunftseltern.

Ist das der Grund, warum Sie sich heute engagieren?

Mitunter ja! Es gibt noch viel zu tun. Das habe ich gemerkt. Nach wie vor ist man als «Pflegekind» stigmatisiert. Die Bevölkerung hat kein Wissen und ist nicht sensibilisiert. Sogar Fachpersonen sind oftmals unsicher im Umgang mit Pflegekindern. Von einer gewissen Normalität ist man weit entfernt.

Das wollen Sie ändern – einen Teil Ihrer Arbeitszeit widmen sie den Pflegekindern.

Einen Tag pro Woche bin ich im Jugendhilfe-Netzwerk Integration in Berner Emmental. Dort begleite ich Jugendliche und bin bei den Sitzungen mit dem Psychiater, Sozialarbeiterinnen und Pädagogen als Experte dabei. Als «emotionaler Anwalt» der Pflegekinder, dem man auf Augenhöhe begegnet, der auf diese Punkte hinweisen kann, die den anderen mit ihren Biografien entgangen sind.

Dieser Einbezug der Betroffenen als Experten – ist der aussergewöhnlich?

Ja. Zu oft wird nur über uns gesprochen und zu wenig mit uns. Langsam, langsam beobachte ich aber eine Veränderung. Ein Beispiel: Als ich vor ein paar Jahren bei einer Fachorganisation vorstellig wurde und meine Unterstützung anbot, wusste man erst gar nicht, was mit mir anzustellen sei. Innerhalb eines Forschungsprojektes konnte ich dann aber eine Rolle als Experte einnehmen. Unser Erfahrungsschatz wurde als Wert erkannt. Das war ein unglaublich gutes Gefühl.

Das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» arbeitet mit einem partizipativen Ansatz. Ist man da auf dem richtigen Weg?

Ja, definitiv. Ich war Teil der ersten Dialoggruppe. Das hat schwungvoll angefangen in Zürich. Es gab einen tiefgründigen Austausch, sehr facettenreich. Jetzt kommen neue Formen des Austauschs an verschiedenen Orten in der Schweiz dazu. Es braucht uns Betroffene als «Erfahrungsexpertengruppe». Als Gruppe, die nicht nur als Quelle geschröpft wird, sondern die als Gesprächspartner auch später in neu entstehenden Netzwerken eine Rolle einnimmt.

Was erhoffen Sie sich persönlich von diesem Projekt?

Auch wenn vieles in der Pflegekinderhilfe kantonal geregelt ist, muss letztlich national eine Veränderung stattfinden. Der föderalistische Ansatz hat offensichtliche Mängel. Es kann nicht sein, dass in Dörfern, die 5 Kilometer auseinander und in verschiedenen Kantonen liegen, Pflegekinder ganz unterschiedliche Erfahrungen machen. Sie können Glück oder Pech haben. Das geht so nicht. Das Projekt kann hier etwas zum Guten in Bewegung bringen – über die Wissenschaft in die Politik. Damit kann man die Qualität steigern und die Bevölkerung sensibilisieren.

 

Nationalfonds mit Ausschreibung zu Adoptionen

Nicht nur das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» beschäftigt sich mit dem Pflegekindersystem in der Schweiz: Mit einer ergänzenden Ausschreibung werden ganz aktuell beim Nationalfonds Projekte angeregt, die Adoptionen in Zwangslagen und Familienplatzierungen unter die Lupe nehmen.

Das NFP 76 befasst sich in historischer sowie gegenwarts- und zukunftsbezogener Perspektive mit Fürsorge und Zwang in der Schweiz. Mehr als hundert Forschende in 27 Projekten bearbeiten eine grosse Bandbreite an Forschungsfragen. Allerdings fehlen Projekte, die Adoptionen in Zwangslagen und Familienplatzierungen vertieft beforschen. Deshalb wird eine dritte Ausschreibung für Forschung in diesen Bereichen lanciert.

Das NFP 76 stellt insgesamt 240’000 CHF Franken für Forschung im Themenbereich Familienplatzierungen zur Verfügung. Eingabefrist für Forschungsgesuche ist der 10.2.2021.

Link zur Ausschreibung: 2ndCall 76_D_nach FR (nfp76.ch)

Letzter Forschungsauftrag vergeben

Nach einer zweiten Runde hat sich die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» nun auch bei der Ausschreibung «Vergleich von kantonalen Strukturen» auf ein Projekt geeinigt. So hat eine Forschergruppe der HES-SO Hochschule für Soziale Arbeit Fribourg, der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW sowie der ZHAW Department Soziale Arbeit das Rennen gemacht und wird die Pflegekindersysteme der Schweizer Kantone vergleichend analysieren.

Welche verschiedenen Typen von kantonalen Pflegekindersystemen gibt es in der Schweiz und wie sind sie jeweils in die kantonale Kinder- und Jugendhilfe eingebettet? Welche Platzierungsphilosophien verfolgen die Kantone? Wie wirken sich die verschiedenen kantonalen Systeme auf das Gelingen und die Unterstützung von Pflegeverhältnissen aus? Wie nehmen Pflegekinder, Pflegeeltern und Herkunftseltern das Pflegekindersystem wahr? Was empfinden sie als unterstützend oder belastend und welche Wünsche und Erwartungen haben sie in Bezug auf das Pflegekindersystem? Diese Fragen stehen im Zentrum der anstehenden Forschung der HES-SO Hochschule für Soziale Arbeit Fribourg, der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW sowie der ZHAW Department Soziale Arbeit.

Ausgangspunkt und Kern des Projektes sind die episodischen Interviews, welche mit Pflegekindern, Pflegeeltern und Herkunftseltern durchgeführt werden. Dieser Untersuchungsschritt wird parallel zur Beschreibung der Pflegekindersysteme der 26 Kantone durchgeführt. Das Projekt will unter anderem auf diese Weise Pflegekindersysteme der Schweizer Kantone vergleichend analysieren und Wechselwirkungen zwischen der administrativen, organisatorischen und rechtlichen Struktur und den im engeren Sinne für den Erfolg der Pflegeverhältnisse relevanten inhaltlichen Qualitätsmerkmale herausarbeiten.

Überzeugt hat die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» insbesondere die ausführliche Darstellung des komplexen Untersuchungsdesigns mit aufeinander aufbauenden Untersuchungsschritten.

Die Forschungsfelder «Gute Begleitung» sowie «Partizipation von Pflegekindern» wurden bereits früher vergeben. Nach dem Entscheid im Bereich «Vergleich von kantonalen Strukturen» sind beim nationalen Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» nun alle Forschungsaufträge vergeben.

Entscheidung getroffen

Fast alle Würfel sind gefallen – zwei Eingaben haben die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» bereits überzeugt. So beim Thema «Gute Begleitung» sowie beim Forschungsfeld «Partizipation von Pflegekindern». Noch offen ist die Wahl des dritten Forschungsprojekts, das einen «Vergleich von kantonalen Strukturen» vornehmen wird.

Die Auswahl aus einer Vielzahl von Eingaben ist über mehrere Wochen in einem strukturierten Prozess erfolgt. Aufgrund der hohen Qualität der eingegangenen Forschungsprojekte sei die Wahl keineswegs einfach gefallen, sagt Projektleiterin Judith Bühler: «Wir konnten uns in der letzten Sitzung aber bereits auf zwei ausgezeichnete Forschungsprojekte einigen, die insbesondere durch die klare Ausrichtung des Forschungsgegenstands überzeugten».

«Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen»

Ausgewählt wurde beim Forschungsfeld «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen» das Projekt der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der Haute école de travail social (HETS GE). Gefallen hat hier insbesondere auch das methodische Vorgehen. In mehreren Kantonen, die sich über drei Sprachregionen verteilen, soll das Erleben der Begleitung multiperspektivisch untersucht werden. Dieser Zugang mit ausführlichen Interviews lässt mehrere Perspektiven auf dasselbe Pflegeverhältnis zu – nicht nur aus der Sicht der Pflegefamilien, sondern auch aus der Sicht der Pflegekinder, Herkunftsfamilien und der Fachkräfte. Die Studie vermag einerseits Wissen zur derzeitigen Schweizer Begleitungspraxis generieren. Andererseits entstehen auf dieser Grundlage Vorschläge zur Verbesserung des Unterstützungssystems, das Pflegefamilien, Pflegekindern und deren Familien angeboten wird.

«Partizipation»

Das interdisziplinäre und interregional aufgestellte Forschungsteam der Ostschweizer Fachhochschule (OST) und der Universität Freiburg (UniFR) hat den Zuschlag beim Thema «Partizipation» erhalten. Hier steht die Perspektive der Pflegekinder im Zentrum. Wie erleben sie ihre Möglichkeiten zur Mitbestimmung? Werden ihre Rechte respektiert? Wo befinden sich Barrieren, welche ihre Entfaltung beeinträchtigen? Neben Expertinnen- und Experteninterviews zu Partizipationsstruktur und -praxis sollen vor allem narrativ-strukturierte Interviews durchgeführt werden, in denen die Erfahrungen der Pflegekinder in den drei oben aufgeführten Partizipationsdimensionen systematisch erhoben werden. Der quantitative Teil der Studie basiert auf den ersten Analysen dieser Interviews und hat zum Ziel, schweizweit die erfahrene Partizipationspraxis aus Sicht der Pflegekinder zu erforschen. Überzeugt hat hier nebst der klaren Ausrichtung vor allem der Methodenmix sowie die enge Zusammenarbeit zwischen der Ostschweiz und der Romandie.

«Vergleich von kantonalen Strukturen»

Noch vertagt wurde der Entscheid zur Wirkung des Föderalismus im Pflegekindersystem. Anhand der heterogenen kantonalen Strukturen, Rechtsgrundlagen und Finanzierungsregelungen sollen hier die Rahmenbedingungen für gelingende Pflegeverhältnisse untersucht werden. Die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» will von einzelnen Forschungsgruppen noch weitere Informationen zu ihren Projekten, damit bis im Dezember auch bei diesem Forschungsfeld ein Entscheid gefällt werden kann.

Interview mit Jacqueline Burckhardt

Das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» ist ein Leuchtturmprojekt der Palatin-Stiftung. Das Projekt wird von der Basler Stiftung über mehrere Jahre nicht nur finanziert, sondern auch direkt geleitet. Im Interview erklärt die Präsidentin der Palatin-Stiftung, Jacqueline Burckhardt, woher dieses Interesse am Pflegekindersystem stammt.

Jacqueline Burckhardt, die Palatin-Stiftung setzt sich für die Zukunftschancen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein. Woher kommt dieses Engagement?

Dem Stifter war es ein grundlegendes Anliegen, dass Kinder unterstützt werden, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, die nicht dieselben Chancen haben wie andere Gleichaltrige. Wohl ist dieses persönliche Engagement des Stifters aus dessen eigenen Geschichte entsprungen. Er ist selber aus einer schwierigen Position gestartet und wurde erst über Umwege ein erfolgreicher Unternehmer. Als älterer Herr hat er sich schliesslich Gedanken gemacht, wie er sein Geld weitergeben könnte. So ist die Palatin-Stiftung entstanden und deren Auftrag, etwa die Chancengleichheit von Pflegekindern zu erhöhen.

Die Unterstützung von Projekten ist das eine, den Lead in einem Riesenprojekt zu übernehmen, das andere. Warum ist man bei «Pflegekinder – next generation» diese Verpflichtung eingegangen?

Als Stiftung, die gut aufgestellt ist und finanziell beachtliche Möglichkeiten hat, wollen wir die Mittel so einsetzen, dass die Vergabungen auch eine Wirkung entfalten. Der Stifter, der inzwischen verstorben ist wollte mit seiner Stiftung eine Veränderung bewirken und so nutzen wir die Mittel heute so, dass wir die Projekte auch mitgestalten können – über eigenes Engagement. Vor diesem Hintergrund ist der Entschluss gereift, zusammen mit PACH und INTEGRAS das Leuchtturmprojekt «Pflegekinder – next generation» zu entwickeln.

Das Projekt «Pflegekinder – next generation» zielt darauf ab, die Bedingungen, unter denen Pflegekinder in der Schweiz aufwachsen, langfristig zu verbessern. Übernimmt Ihre Stiftung hier nicht eine ureigene staatliche Aufgabe?

Tatsächlich sind viele private Stiftungen in Bereichen aktiv, die eigentlich eine staatliche Aufgabe darstellen. Wir haben selbstverständlich ein vom Staat getragenes System für die Pflegekinder, aber die Analyse und der Anstoss für Verbesserungen der heute weitgehend kantonal geregelten Pflegekindersysteme können wohl nur von Privaten kommen. Hier macht es durchaus Sinn, wenn etwa Stiftungen wie die Palatin-Stiftung einspringen und die Lücke füllen. Wenn man etwa das Pflegekindersystem betrachtet und die Unterschiede in den Kantonen sieht, dann schadet es definitiv nicht, wenn man die Thematik aufarbeitet – zugunsten der Kinder.

Anders gefragt: Gibt es sogar Vorteile, wenn eine Stiftung aktiv wird?

Ich denke, ja. Als Stiftung agieren wir ohne politische Agenda, wir gehen völlig ergebnisoffen an die Sache heran. Wir wollen wissen, was ist. Und wir wollen wissen, was man verbessern könnte. Die Rezeption der Ergebnisse ist dann Sache der Politik und der Fachwelt.

Apropos Politik und Fachwelt: In einer Projektgruppe, welche unter anderem die besten Projekte der Schweizer Hochschulen bestimmt hat, sind auch Vertreterinnen der SODK, KOKES und des BSV vertreten. Weshalb ist diese Anbindung wichtig?

Diese Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» besteht aus ausgewiesenen Fachpersonen, welche das Projekt «Pflegekinder – next generation» begleiten. Dies ist wichtig, damit wir frei, aber immer mit einem Bezug zur Praxis, die Forschung und damit das Pflegekinderwesen voranbringen können. Die Vertreterinnen arbeiten auf höchstem Niveau. Fachlich ist das fantastisch, die Diskussionen sind spannend und absolut fundiert. Von der Forschungsausschreibung bis zur Wahl der Projekte haben wir sehr gut zusammengearbeitet und sind mit grossen Schritten vorangekommen.

«Partizipation von Pflegekindern», «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen», «Vergleich von kantonalen Strukturen» – die Projektgruppe hat sich auf drei Themen fokussiert. Warum eigentlich?

Die genannten Themen sind das Ergebnis der umfassende Forschungsbedarfsanalyse, welche die Grundlage für das gesamte Projekt ist. Wir haben den Forschungsstand den Wissensinteressen aus der Praxis gegenüberstellt und hieraus letztlich die drei Themen abgeleitet. Wie gesagt: Wir wollen dort forschen, wo es Lücken gibt, dort aktiv sein, wo Verbesserungen möglich und nötig sind.

Klar war immer auch, dass die Forschung über die Sprachgrenzen hinaus stattfinden soll. Ist dieser Punkt so wichtig?

Ja, er ist sogar zentral. Die italienische Schweiz und die Romandie müssen einbezogen sein, weil sie, ich sage es salopp, «anders ticken». Wir kriegen nur gute Erkenntnisse, wenn wir verstehen, warum es in der Schweiz Unterschiede im Pflegekindersystem gibt. Wir fragen: Wieso ist es hier und dort anders, funktioniert es irgendwo besser, oder ist es nur anders, weil die Kultur eine andere ist?

Allein für die Forschung stellt die Palatin-Stiftung 800’000 Franken zur Verfügung. Was für Erwartungen verbinden Sie damit?

Ich erwarte, dass diese Forschung zu merklichen Verbesserungen im System führt, damit die Pflegekinder eine noch bessere Chance in ihrem Leben haben. Ich hoffe somit auf fundierte Erkenntnisse, die bestehende Lösungen stützen oder neue Lösungsansätze aufzeigen. Forschung hat für mich auch mit Fakten zu tun: Ich möchte nicht nur, dass sich die Gesellschaft «liebevoll» um die Kinder kümmert, sondern auch «professionell». Und darum muss man wissen, was man macht, und wie es wirkt.

Und wenn die Erkenntnisse letztlich nach einer politischen Antwort verlangen? Wird die Palatin-Stiftung dann plötzlich auch politisch?

Dies steht nicht im Vordergrund. Aber wenn dies im Interesse der Kinder sein sollte, habe ich persönlich keine Berührungsängste. Zunächst müssen wir jedoch die Grundlagen für allfällige Anpassungen schaffen. Die Bühne gehört jetzt voll und ganz der Forschung.

Call for proposals

Nun sind die Forschenden gefragt: Bis Mitte Oktober haben sie Zeit, bei «Pflegekinder – next generation» ihre Offerten für Forschungsprojekte einzureichen. Die Ausschreibungen hierzu sind im August 2020 aufgeschaltet worden.

Die Situation der Pflegekinder in der Schweiz soll sich langfristig verbessern – mit diesem Ziel vor Augen hat die Projektgruppe «Forschung und Entwicklung» drei grosse Untersuchungsfelder bestimmt.

Partizipation, gute Begleitung, Vergleich kantonale Strukturen

Die Perspektive der Pflegekinder steht im Zentrum der ersten Untersuchung. Wie erleben sie ihre Möglichkeiten zur Mitbestimmung? Werden ihre Rechte respektiert? Wo befinden sich Barrieren, welche ihre Entfaltung beeinträchtigen? Diesen und anderen Fragen geht das Projekt Partizipation von Pflegekindern nach, um Rückschlüsse auf eine gelungene Partizipationspraxis zu ziehen.

Das Projekt Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass sich die in Pflegeverhältnissen beteiligten Pflegekinder, Herkunfts- und Pflegefamilien komplexen Aufgaben gegenüberstehen. Bei der Untersuchung geht es insbesondere um die Fragen, wie die Begleitung von Pflegeverhältnissen in der Schweiz organisiert ist und an welchen Beispielen einer vorbildlichen Praxis man sich bei der Verbesserung der Begleitung orientieren kann.

Der Wirkung des Föderalismus soll im Projekt Vergleich von kantonalen Strukturen nachgegangen werden. Anhand der heterogenen kantonalen Strukturen, Rechtsgrundlagen und Finanzierungsregelungen sollen die Rahmenbedingungen für gelingende Pflegeverhältnisse untersucht werden.

Genügend Mittel für vertiefte Forschung

Damit die Forschungsprojekte langfristig Wirkung zeitigen können, wurden sie mit einem Kostendach von 150’000, 250’000 und 400’000 Franken versehen. Mit eingeschlossen im Budget sind die geeignete Vermittlung der Ergebnisse an unterschiedliche Zielpublika im Rahmen der Veranstaltungen des Gesamtprojektes. Forschende und ihre Teams aus der ganzen Schweiz können bis spätestens am 16. Oktober ihre Offerten einreichen. Nach einer Evaluation der Offerten wird die Projektgruppe «Forschung und Entwicklung» im Dezember über die Vergabe der Aufträge befinden. Im nächsten Jahr dann sollen die Forschungsprojekte starten. Detaillierte Informationen zu den Ausschreibungen finden sich unter:

https://pflegekinder-nextgeneration.ch/forschungspreojekt-pflegekinderhilfe-schweiz-ausschreibung/

 

Pflegekinderbereich – Berichte zeigen, wo Forschung notwendig ist

Im Rahmen des Projektes «Pflegekinder – next generation» wurde in den letzten Monaten analysiert, wo Forschungslücken bestehen und wo der Forschungsbedarf am dringlichsten ist. Die zugehörigen Berichte werden nun der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Welche Bereiche der Pflegekinderhilfe, der Kinderrechte und des Kindesschutzes bei Pflegekindern sind wenig erforscht? Wo bestehen Handlungsunsicherheiten bei den verschiedenen Anspruchsgruppen? Welcher Wissensbedarf gibt es bei Fachpersonen und Betroffenen? Diese und andere Fragen standen im Zentrum der umfassenden Analyse zum Forschungsstand in der Schweiz, welche die PACH und INTEGRAS in den letzten Monaten im Auftrag der Palatin Stiftung durchgeführt haben.

Im knapp 80-seitigen Bericht «Forschungsbedarf im Pflegekinderbereich Schweiz» haben die Autorinnen nicht allein den bisherige Forschungsstand zusammengetragen. Vielmehr haben sie die aktuellen Bedürfnisse der verschiedenen Ansprechgruppen dingfest gemacht. Sie erfragten die Wissensinteressen bei den Kantonen und haben mit Fachpersonen und Betroffenengruppen Interviews und Workshops durchgeführt. In einem zweiten Schritt ging es darum, die neu gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse zu gewichten. Im «Bericht zu Schwerpunkten der Forschungsprojekte» entwickelte Prof. Dr. Klaus Wolf Vorschläge für eine Handvoll zielgerichteter Forschungsprojekte.

Die genannten Berichte können hier heruntergeladen werden:

PACH und INTEGRAS: Forschungsbedarf im Pflegekinderbereich Schweiz

Management Summary: Forschungsbedarf im Pflegekinderbereich Schweiz

Anhang Forschungsbedarf: Übersicht Bildungslandschaft

Anhang Forschungsbedarf: Übersicht kantonale Strukturen

Prof. Dr. Klaus Wolf: Bericht zu Schwerpunkten der Forschungsprojekte

Auf der Grundlage der beiden Berichte hat die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» entschieden, zu welchen Themen die Forschungsprojekte ausgeschrieben werden sollen. Während das erste Projekt zum Thema «Partizipation der Pflegekinder» die Perspektive des Pflegekindes ins Zentrum rückt, weitet das Projekt «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen» die Perspektive auf alle Akteurinnen und Akteure des Pflegekinderbereichs aus. Das dritte Projekt schliesslich, die «Vergleichsstudie Strukturen», nimmt vor dem Hintergrund der heterogenen kantonalen Pflegekinderhilfe eine übergeordnete Perspektive ein und verortetet das Projekt «Pflegekinder – next generation» in der Politik.

 

«Dialoggruppe DAF» – jetzt anmelden!

Das nationale Projekt «Pflegekinder – next generation» setzt auf Forschung, Austausch und Dialog – das nächste Mal mit den DAF (Dienstleistungsanbietende Familienpflege). Die Themen und Ergebnisse der Forschung sollen in der Praxis laufend gespiegelt werden. Eine «Dialoggruppe DAF» wird im September erstmals zusammenkommen.

Der Austausch mit Pflegekindern war aufschlussreich, das Zusammentreffen mit ihren Eltern lehrreich. Und auch der Gedankenaustausch mit den Pflegeeltern hat vertiefte Erkenntnisse gebracht. Insgesamt sechs Dialoggruppen – in der deutschen und französischen Schweiz – , welche die Bedürfnisse und den Wissensbedarf der Betroffenen ins Zentrum stellten, haben bereits stattgefunden; wobei diese Form der Partizipation bei «Pflegekinder – next generation» nicht nur relevant ist, sondern auch Folgen zeitigt: So sind die Erkenntnisse aus den ersten Dialoggruppen direkt in die Analyse zum Forschungsbedarf in der Schweiz eingeflossen und damit Grundlage geworden für die Forschungsprojekte, die im Spätsommer ausgeschrieben werden.

Wertvoller Erfahrungsschatz der DAF

In den Dialoggruppen des Projektes «Pflegekinder – next generation» sollen die bedeutendsten Akteurinnen und Akteure des Pflegekindersystems Einsitz nehmen. Dazu gehören unbestritten auch diejenigen Organisationen, die Dienstleistungen in der Familienpflege erbringen. Die DAF unterstützen nicht nur die Pflegefamilien in ihrer anspruchsvollen Aufgabe, auch der Erfahrungsschatz der DAF ist für die Praxis zentral.

Im Herbst 2020 wird darum erstmals die «Dialoggruppe DAF» zusammenkommen. Während PACH und INTEGRAS die umfassende Analyse zum Forschungsstand in der Schweiz präsentieren, können die DAF in einen Austausch zu den Resultaten der Forschungsbedarfsanaylse treten. Die Standpunkte und Meinungen der DAF werden in das Projekt integriert. Darüber hinaus erfahren die DAF mehr über die Forschungsthemen, die die Palatin Stiftung diesen Herbst ausschreiben wird.

Nun suchen wir Mitarbeitende von DAF sowie auch Mitarbeitende von staatlichen Stellen, die Vermittlung, Begleitung und Ausbildung von Pflegeeltern ausüben (wie z.B. aus der französischen Schweiz ohne DAF). Sie  erfahren an der Veranstaltung auch, wie es im Projekt weitergeht.

Interessierte DAF, welche fester Bestandteil der «Dialoggruppe DAF» werden wollen, können sich jetzt für das erste Zusammentreffen anmelden:

Datum: Mittwoch, 16. September 2020, 10.00 – 14.00 Uhr

Ort: Hotel Kreuz Bern, Zeughausgasse 41 , 3011 Bern

Melden Sie sich bei Barbara Furrer, Fachmitarbeiterin PACH über barbara.furrer@pa-ch.ch oder unter 044 205 50 40

 

Interview mit Prof. Dr. Klaus Wolf

Die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» hat ihre Schwerpunkte für die kommende Ausschreibung gesetzt. Mitentschieden hat hierbei auch Prof. Dr. Klaus Wolf, der Gründer der Forschungsgruppe Pflegekinder und der Forschungsgruppe Heimerziehung der Universität Siegen. In einem Interview beleuchtet er sein Engagement für benachteiligte Kinder und die Bedeutung des Forschungsprojektes «Pflegekinder – next generation».

Klaus Wolf, Sie gelten als einer der wichtigsten Wissenschaftler im Bereich der Pflegekinderhilfe. Woher stammt Ihr Forschungsinteresse?

Menschen mit schwierigen Biografien haben mich schon immer fasziniert, während mich die gesellschaftliche Abwertung eben dieser Menschen abgestossen hat. Schon lange vor der akademischen Karriere habe ich mich für Kinder engagiert, die unter ungünstigen Verhältnissen aufwachsen. Wie ist es möglich, dass sich diese Kinder selbstbestimmt und zufrieden entwickeln und manchmal sogar ein glückliches Leben führen können? Was können wir beitragen, dass sich ihre Situation verbessert. Dies wollte ich wissen.

Sie waren stets in Deutschland tätig, an verschiedenen Forschungsstätten und ab 2002 als Professor für Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Hatten Sie Berührungspunkte zur Schweiz?

Schon früh tauchten bei den Kongressen etwa Schweizer Kolleginnen und Kollegen auf. Sie zeigten uns, dass die Probleme hier wie dort sehr ähnlich liegen, sie berichten aber auch von grossen Unterschieden.

Nämlich?

Nun, der Unterschied zwischen der Deutschschweiz und der Westschweiz ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass die Pflegekinderhilfe beispielsweise im Kanton Appenzell Innerhoden ganz anders sein kann als in St. Gallen. Diese grosse Vielfalt springt einem ins Auge und bietet ein wunderbares Forschungsfeld.

Ist das der Grund, warum sie beim Projekt «Pflegekinder –  next generation» zugesagt haben?

Ja, als ich von diesem Projekt gehört habe, fand ich dieses sogleich faszinierend. Denn Forschung zu Pflegekindern gab es in der Schweiz bis anhin nur isoliert und punktuell. Wohl auch die Aufarbeitung des Verdingkinderwesens hat hier zu einem Umdenken geführt. Man will jetzt wissen, was damals war und man will erfahren, wie es heute ist. Wenn es nun durch dieses Projekt «Pflegekinder – next generation» einen Schub geben kann, dann ist dies nicht nur für mich als Wissenschaftler interessant, sondern es ist auch für die Pflegekinder in der Schweiz und hoffentlich die ganze Gesellschaft äusserst bedeutungsvoll.

Eine umfassende Forschungsbedarfsanalyse wurde gemacht. Was hat diese gezeigt?

Die Analyse hat gut vermessen, welche Forschungs- und Wissensbestände es gibt und wo Lücken bestehen. Die Aufgabe von unserer Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» war es dann, die Schwerpunkte zu setzen. Es geht eben nicht darum, mit einem Forschungsprojekt gleich alle Lücken schliessen zu wollen – bei solch einer «eierlegenden Wollmilchsau» käme nichts Halbes und nichts Ganzes heraus.

Die Schwerpunkte wurden gesetzt. Da geht es einerseits um die «Partizipation der Pflegekinder».

Dieses Projekt ist überfällig. Alle sagen, die Kinder sollen im Mittelpunkt stehen. Aber jeder und jede, der mit Pflegekindern zu tun hat, weiss, wie oft sie sich ungehört und unverstanden fühlen. Die Kinder, um die es eigentlich geht, sind im Prozess oftmals zu wenig eingebunden. Wie können wir das ändern – dies muss uns interessieren.

Ein zweites Projekt beschäftigt sich mit der «guten Begleitung». Worum geht es da?

In der Bevölkerung gibt es die Vorstellung, dass mit «guten Pflegeeltern» alles klappt. Wenn es doch nur so einfach wäre. Das Gegenteil ist der Fall, vieles ist kompliziert: Pflegekinder, Pflegeeltern und auch die leiblichen Eltern – sie alle brauchen viel Unterstützung, damit sie es gemeinsam gut hinkriegen.

Und dann wäre noch die vergleichende Studie. Warum liegt Ihnen diese am Herzen?

Die vergleichende Studie ist darum spannend, weil es diese ganz spezielle, heterogene Ausgangslage nur in der Schweiz gibt. Die kantonalen Unterschiede kann man forschungsmässig bestens nutzen und sich fragen: Welche Folge hat es, wenn ein Kanton so oder anders organisiert ist? Welche Wechselwirkung gibt es zwischen den rechtlichen Regelungen und der Entwicklung bei Pflegefamilien. Wo lohnt es sich, mehr zu investieren und wo weniger. Dieses Forschungsprojekt kann, davon bin ich überzeugt, brisante Ergebnisse produzieren.

Was für Forschungsgruppen wünscht man sich?

Wir wollen in erster Linie Forschende, die nicht nur aufzeigen, was falsch läuft, sondern auch Ideen entwickeln, wie man es besser machen kann. Insbesondere bei der «guten Begleitung» und den «unterschiedlichen Strukturen» braucht es Gruppen, die Daten vergleichen können. Vor diesem Hintergrund wären überregionale Forschungsgruppen interessant. Ich denke da an Kooperationen zwischen Hochschulen, die auch nach unserem Projekt weiterleben. Gelingt dies, ist das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» nicht nur visionär, sondern auch nachhaltig.