Gedanken aus der Entwicklungspsychologie


Im Interview erklärt der Entwicklungspsychologe
Professor Alexander Grob, warum Pflegekinder kein Mitleid, sondern Liebe und Geborgenheit wie alle anderen Kinder brauchen, und was dies für das Forschungsprojekt bedeutet.

Herr Grob, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Pflegekinderwesen. Woher rührt dieses Interesse?

Nun, der wichtigste Beziehungspunkt sind die vielen eindrücklichen Menschen, denen ich begegnet bin, und die im Heim aufgewachsen sind oder selbst sogenannte Pflegekinder waren; und natürlich auch Pflegeeltern. Ebenso gibt es in meiner Herkunftsfamilie die Erfahrung von Familienplatzierung und privater Unterstützung, damit sich Betroffene wieder in der Gesellschaft einfinden konnten — heute spräche man von Beistandschaft. Und schliesslich war die Familie meines besten Freundes selbst auch eine Pflegefamilie.

Der andere Beziehungspunkt ist wohl beruflicher Art?

Genau. Mein Spezialgebiet ist die Entwicklungspsychologie. Wir stellen uns die Frage, wie frühe Erfahrungen Menschen beeinflussen und ihren Lebensweg mitbestimmen. Natürlich ist da von Interesse, inwiefern Pflegekinder andere Voraussetzungen haben als Kinder, die bei den leiblichen Eltern aufwachsen.

Lässt sich diese Frage nicht klar beantworten?

Keineswegs. Wir haben vielfach die Vorstellung, es müssten immer die leiblichen Eltern sein. Die Evidenz zeigt aber ein anderes Bild. So sind vor allem die Beziehungen relevant für den Lebenslauf. Egal also, ob ein alleinerziehender Vater, zwei Mütter, die leiblichen Eltern oder Pflegeeltern ein Kind aufziehen – wichtig ist die Verbindlichkeit der Beziehung.

Wie lässt sich das erklären?

 Wenn ein Säugling auf die Welt kommt, hat er keine Chance, sich selbständig zurechtzufinden. Er braucht darum eine Person, die ihn auf den Arm nimmt, wenn er weint, eine Person also, welche primäre Bedürfnisse befriedigt. So erhält das Kleinkind eine Vorstellung von Geborgenheit.

Und für diese Geborgenheit ist «Biologie» nicht die alleinige Garantie.

Genau. Eltern, die beispielsweise nicht da sind, wenn sie Schutz geben sollten, sind für ein Kind sicher schlechter, als wenn dieses in einer anderen, liebevollen Umgebung aufwächst.

Es gibt aber auch erzwungene Settings. In früheren Jahren wurden Kinder vielfach weggegeben, weil die Eltern arm waren, oder man hat alleinerziehenden Müttern die Kinder weggenommen.

 Ja, das ist etwa dem Vater meiner ersten Freundin passiert, der als Verdingkind aufwachsen musste. Heute reden wir von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

 Als Präsident der Leitungsgruppe des Nationalfondsprojektes (NFP 76) engagieren sie sich für die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels. Inwiefern partizipieren die Betroffenen an diesem Prozess?

Es gibt verschiedene Etappen, bei denen die Betroffenen eingebunden werden. So haben Betroffene etwa bei den Forschungsfragen wichtige Inputs geliefert. Indem wir Biografien subjektiv nachzeichnen, bekommen die Betroffenen bei uns ebenfalls eine Stimme. In der Auswertung jedoch ist es wichtig, dass die Wissenschaft frei ist. Wir arbeiten mit und für die Betroffenen, aber die Betroffenen sagen nicht, wie wir es machen müssen.

Inwiefern ergänzt das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» das Nationalfondsprojekt?

Es ist eine perfekte Ergänzung. Das NFP 76 ist ein analytisches Forschungsprogramm, das politisch gewollt ist und aus der Überzeugung entstanden ist, dass wir hinschauen und lernen müssen. Das Projekt «Pflegekinder – next generation» hat einen anderen Ursprung. Ich verorte es näher bei einer Handlungsebene und weniger bei einer Analyseebene.

Bei dieser «Handlungsebene» sind die Betroffenen im Zentrum. Ein Forschungsfeld widmet sich voll und ganz dem Thema der «Partizipation».

Exakt, die Forschenden arbeiten im Hier und Jetzt mit den Betroffenen, sie fragen 6-, 12- oder 18-Jährige, was sie unter Partizipation verstehen: «Was kannst du aktuell mitbestimmen? Kannst du sagen, du willst deine leiblichen Eltern sehen oder wieviel Taschengeld du willst? Werden deine Kindsrechte respektiert?» Sie versuchen so herauszufinden, was gute Partizipation ausmacht.

 Partizipation im Forschungsprojekt sollen auch die Dialoggruppen garantieren. Was halten Sie davon?

Die Dialoggruppen haben sich im wissenschaftlichen Kontext bewährt. Man zeigt, dass man die Betroffenen ernst nimmt, man forscht an ihnen nicht vorbei. Gleichzeitig darf diese wichtige, aber auch subjektive Betroffenheitsperspektive den Blick auf das grosse Ganze nicht verhindern.

Bei diesem Dialog gilt es, für Betroffene und Wissenschafter also so einiges auszuhalten?

Ja, Partizipation ist so verstanden eine Art Beziehung. Jedes Beziehungsgefüge funktioniert dann gut, wenn man akzeptieren kann, dass das Gegenüber nochmals eine andere Sicht hat. Beim Dialog geht es also um Akzeptanz und Einbindung, nicht darum, dass die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler das Forschungsdesign ständig anpasst.

Was für Erwartungen haben Sie an das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation»?

Die Frage führt mich wieder zum Anfang des Interviews und den Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie. Es ist der eigene Ansatz in diesem Forschungsprojekt, von dem ich viel erwarte: Wir gehen nicht davon aus, dass Pflegekinder in einem unglücklichen Setting aufwachsen. Dies ermöglicht, positive neue Ansätze zu entwickeln. Am Schluss geht es darum herauszufinden, wie wir die zentralen Ingredienzen wie Geborgenheit, Bezugshaftigkeit, Konstanz, Verbindlichkeit in Beziehungen in den Heim- und Pflegekinderkontext bringen. Wenn das Projekt hierzu einen Beitrag leistet, dann haben wir viel erreicht.

Prof. Dr. Alexander Grob