Interview mit Joanna Bärtschi
Die Projektgruppe «Forschung & Entwicklung» besteht aus ausgewiesenen Fachpersonen, die das Projekt «Pflegekinder – next generation» von Beginn an begleiten. Mitglied ist auch Joanna Bärtschi, Fachbereichsleiterin Kinder und Jugend der SODK. Im Interview erklärt sie, warum die SODK grosse Erwartungen an das Projekt hat und in welchen Punkten die SODK besonders an Ergebnissen interessiert ist.
Warum engagiert sich die SODK beim Projekt «Pflegekinder – next generation»?
Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ausserhalb ihrer Herkunftsfamilie gehört zu den Schwerpunktthemen der SODK. Wir engagieren uns in diesem Bereich insbesondere für qualitative Mindeststandards und für die Stärkung der Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Bisher hat sich noch kein anderes Projekt in dieser Grössenordnung mit den grundlegenden Fragen beschäftigt, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Pflegekinder – next generation“ behandelt werden. Wir sind davon überzeugt, dass die Ergebnisse dieser Studien und der im Rahmen des Projekts stattfindende Austausch dazu führen werden, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Bedürfnisse noch stärker in den Mittelpunkt rücken.
Wurde in der Vergangenheit die Situation der Pflegekinder im Diskurs vernachlässigt?
In den letzten Jahren, insbesondere im Zuge der Professionalisierung der Kinderschutzbehörden, hat die Situation von Pflegekindern aus meiner Sicht an Aufmerksamkeit gewonnen. Die durchgeführten Studien und Debatten drehten sich jedoch viel um die Verfehlungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Es ist jedoch unerlässlich, dass man sich jetzt mit der Situation der heutigen Pflegekinder, deren genaue Zahl nicht einmal bekannt ist, befasst, damit ihre Rechte besser verteidigt werden können.
Drei Themenkomplexe werden untersucht. Da geht es um die Partizipation, um die gute Begleitung und um den Vergleich der kantonalen Strukturen. Was interessiert die SODK bei der Partizipation?
Nach Ansicht der SODK muss die Partizipation von Pflegekindern in allen Phasen der Unterbringung gewährleistet sein und dem Alter des Kindes angepasst werden. Dies ist heute noch nicht durchgängig der Fall. Uns interessiert insbesondere, wie wir die Pflegekinder zur Partizipation befähigen können. Aber auch die Frage, wie die Pflegekinder und ihre Bezugspersonen stärker in das Entscheidungsverfahren, das sie direkt betrifft, einbezogen werden können. Ausserdem möchten wir wissen, ob die involvierten Akteure die Partizipationsmöglichkeiten voll ausschöpfen. In Bezug auf diese Fragen möchten wir wissen, welche positiven Beispiele aus der Praxis (Best Practice) existieren, von denen sich die Kantone inspirieren lassen könnten.
Was interessiert die SODK bei der Frage nach der «guten Begleitung»?
Eine Unterbringung in einer Pflegefamilie oder Institution kann zu einem Bruch in der Biographie führen oder als solcher wahrgenommen werden. Deshalb sind diese Kinder und Jugendlichen in vielen Fällen besonders verletzlich. Kindern und Jugendlichen gebührt besondere Aufmerksamkeit durch die öffentliche Hand. Häufig ist ihr Helfernetz relativ klein. Darüber hinaus sind die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in Pflegeverhältnissen von Situation zu Situation unterschiedlich und ändern sich auch im Laufe der Zeit. Wie kann man vor diesem Hintergrund den Betreuungsbedürfnissen dieser Kinder und Jugendlichen am besten gerecht werden, um negative Auswirkungen auf ihre langfristige Entwicklung zu vermeiden? Die Beantwortung dieser Frage, auch hier sicherlich anhand von positiven Praxis-Beispielen, ist für uns von besonderem Interesse.
Und was bei dem Vergleich der kantonalen Strukturen?
Wir wissen, dass die kantonalen Strukturen im Bereich der ausserfamiliären Unterbringung von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich organisiert sind. Und bis heute fehlt uns diesbezüglich ein Überblick. Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, Überlegungen auf interkantonaler Ebene anzustellen. Die Ergebnisse der Studie werden ein guter Ausgangspunkt sein. Zudem ist es in diesem Bereich nicht ungewöhnlich, dass Kinder und Jugendliche in anderen Kantonen als ihrem Herkunftskanton platziert werden. Die Organisation der Strukturen besser zu kennen, wird die Zusammenarbeit zweifellos erleichtern.
Sie sagen es – gerade der Vergleich der kantonalen Strukturen zeigt einen kleineren Flickenteppich im Bereich des Pflegekinderwesens. Funktioniert das so?
Die Tatsache, dass die Organisation von Kanton zu Kanton unterschiedlich ist und die Schweizer Landschaft in diesem Bereich sehr heterogen ist, hat aus unserer Sicht keine direkten Auswirkungen auf die individuellen Situationen. Aber es erschwert zweifellos die Debatte und das Nachdenken auf interkantonaler Ebene. Generell sind wir für mehr Transparenz, was durch die vergleichende Studie der kantonalen Strukturen noch verstärkt wird.
Gemeinsam mit den Forschungsteams sowie Vertretenden der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und des Bundesamts für Justiz (BJ) findet am 8. November 2022 Morgens eine spezifische Dialoggruppe statt. Diese richtet sich an Fachpersonen aus KESB, Berufsbeistandschaften und Jugend- und Sozialdienste und widmet sich den Themen «Partizipation» und «Gute Begleitung». Was wollen Sie mit diesen Fachpersonen diskutieren?
Ziel dieser Dialoggruppe ist es, die Forschungsergebnisse des Projekts „Pflegekinder – next generation“ zum Thema „Partizipation“ und „gute Begleitung“ mit den Erfahrungen und Praktiken von Fachleuten zu vergleichen. Die SODK und die KOKES haben im November 2020 Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung veröffentlicht. In diesen Empfehlungen werden bereits Qualitätsstandards in Bezug auf diese beiden Themen in Form von allgemeinen Grundsätzen dargestellt. Im Rahmen dieser Dialoggruppe sollen auf der Grundlage der Ergebnisse der Studie Diskussionen über konkretere und detailliertere Aspekte im Zusammenhang mit dem Thema „Partizipation“ und „gute Begleitung“ geführt werden.
Am 8. November 2022 nachmittags findet eine weitere spezifische Dialoggruppe statt. Dabei steht der «Vergleich von kantonalen Strukturen» im Zentrum. Was möchten Sie mit dieser Gruppe spiegeln?
Das Forschungsteam wird seine Ergebnisse vorlegen. Für die SODK bietet die Dialoggruppe mit Vertretern der Direktionen der kantonalen Ämter und der kantonalen Verantwortlichen hier die Chance, die Bedürfnisse auf interkantonaler Ebene zu erfahren. Eventuell wird die Forderung nach politischen Vorstössen laut, oder es ertönt der Ruf nach mehr Koordination oder nach mehr Austausch bewährter Praktiken. Auf der Grundlage der Diskussion in dieser Dialoggruppe wird die SODK prüfen, ob sie zu diesem Thema etwas unternehmen soll.